Ringvorlesung SS 2017

  • Tagungsort:

    KIT – Campus Süd
    Gebäude 20.30
    Raum 0.014

  • Datum:

    Dienstags, wöchentlich

  • Zeit:

    17:30 bis 19:00 Uhr

»Gefühlte Wahrheiten? Wissenschaftskommunikation und der ›Fakten-Diskurs‹ – Beiträge aus Forschung und Praxis«

Dienstag, 25. Juli, 17:30 Uhr

Prof. Dr. Annette Leßmöllmann, KIT Karlsruhe

»Ist Wissenschaftskommunikation möglich?«

Fakenews, Bullshit, Trump: Eine Antwort auf diese Phänomene könnte sein, immer mehr Wissen in die Welt zu pumpen. Doch so einfach ist es nicht: Wer heute Wissenschaftskommunikation betreibt, muss sich sehr genau überlegen, welche Sicht auf Rationalität, Fakten und Wissen er oder sie hat. Der Vortrag greift einige aktuelle Debattenbeiträge – auch aus den Vorträgen der Ringvorlesung – auf und spitzt thesenartig zu, wie Wissenschaftskommunikator*innen mit postfaktischem Denken umgehen können. 

 

Annette Leßmöllmann leitet die Abteilung Wissenschaftskommunikation und die Studiengänge Wissenschaft – Medien – Kommunikation (B.A. und M.A.), außerdem ist sie Sprecherin des Instituts für Germanistik: Literatur, Sprache, Medien.

 

Dienstag, 18. Juli, 17:30 Uhr

Prof. Dr. Rafaela Hillerbrand, KIT Karlsruhe

»Freiheit und Objektivität der Forschung in der Ära Trump« (fällt aus!)

Wissenschaft liefert für die einen heute nur noch eine Meinung unter vielen. Andere hingegen sehen in den Wissenschaftlern die Propheten einer verheißungsvollen, technisierten und rationalisierten Zukunft. Rafaela Hillerbrand möchte in diesem Vortrag argumentieren, dass beide Anschauungen zu kurz greifen und der wissenschaftlichen Praxis gefährlich werden. Sie wird diskutieren, in welchem Sinne das Wissen, das uns die (empirischen) Wissenschaften geben, objektiv ist und sich damit von andern Wissensformen abhebt. Dies hat Implikationen für die Freiheit der Forschung, deren institutionelle Verankerung oftmals gefordert wird, deren Voraussetzungen aber wenig problematisiert werden.

Wegen Krankheit muss der Vortrag leider ausfallen!

 

 

Rafaela Hillerbrand ist Professorin für Technikethik und Wissenschaftsphilosophie - Beurteilung komplexer Wissensformen am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des KIT. Zuvor war sie Associate Professor an der TU Delft und Juniorprofessorin an der RWTH Aachen, wo sie die Forschungsgruppe "eet-ethics for energy technology" am Human Technology Centre (HumTec) leitete. Hillerbrand promovierte sowohl in theoretischer Physik an der Universität Münster als auch in Philosophie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Ihre Arbeiten wurden ausgezeichnet mit dem mit dem Ingrid-zu-Solms Naturwissenschaftspreis 2008 und dem Lilli-Bechmann-Rahn-Preis der Universität Erlangen-Nürnberg 2005.

 

Dienstag, 11. Juli, 17:30 Uhr

Han Langeslag (vertritt Maren Urner), Perspective Daily

»Vertrauen in den Medien: Warum Fact-Checking gegen Fake News nicht ausreicht«

Während alle über Fact-Checking und Kontrolle reden, um Falschinformationen, alternative Fakten und Fake-News zu bekämpfen, wird meist eine wichtige Zutat vergessen: unser Gehirn. Die Neurowissenschaftler und Gründer von Perspective Daily Maren Urner und Han Langeslag wollen das ändern. Ihr Appell: Nur, wenn wir unser Gehirn und damit uns selbst besser verstehen, können wir nicht nur effektiv gegen alternative Fakten und Fake News angehen, sondern generell eine Medienlandschaft schaffen, die auf Vertrauen basiert.

 

 

Han Langeslag studierte Wirtschaftswissenschaften in den Niederlanden und Neurowissenschaften in London. Gemeinsam mit Maren Urner gründete er Perspective Daily, ein deutschsprachiges Portal für konstruktiven Journalismus. Die Seite wurde über eine Crowdfunding-Kampagen finanziert und ging im Juni 2016 online.

 

Dienstag, 4. Juli, 17:30 Uhr

Prof. Dr. Peter Wiedemann, Universität Wollongong, Australien

»Risikokommunikation zwischen Fakten, Fake und Emotionen«

Wie sollte man Risiken kommunizieren? Eine knappe Antwort auf diese Frage wäre: Korrekt und verständlich. Denn es gilt, den Adressaten eine wissensbasierte Bewertung zu ermöglichen. Aber öffentliche Risiko-Diskurse - wie zum Elekrosmog, zur Gentechnik, zu Pestiziden in Lebensmitteln oder zur Luftverschmutzung - werden nicht in Volkshochschulen geplant. Risikokommunikation ist, trotz aller Bekenntnisse zur Aufklärung, immer auch ein populistischer Diskurs, wenn vitale Interessen von politischen Akteuren berührt werden. Dann spielt der zwanglose Zwang des besseren Arguments kaum eine Rolle. Die Durchsetzung von Geltungsansprüchen und die Mobilisierung der Massen sind wirksamer über moralische Appelle und Bauchgefühle zu erreichen. Welche kommunikativen Praktiken dabei angewandt werden, wird an einer Reihe von Risiko-Diskursen aufgezeigt. Es geht um u.a. um Handys, um Stromtrassen, um Lebensmittel und um die Diesel-Betrugs-Affäre. An diesen Beispielen soll erörtert werden, ob kritisches Denken populistischen Risiko-Fetischismus überwinden kann, immer überwinden sollte, und wie dabei vorzugehen ist.

 

 

Peter Wiedemann ist Professor für Psychologie und Associate Investigator am Australian Centre for Electromagnetic Bioeffects Research an der University of Wollongong, außerdem ist er Sprecher des Science Forum Electromagnetiv Fields. Zuvor arbeitete er am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS). In seiner Forschung befasst sich Wiedemann mit Risikoabschätzung und Evidenzbewertung, Umgang mit undeutliche Risiken und sowie Akzeptanzbewertung. Von 1992 bis 2009 war er Leiter der Programmgruppe Mensch, Umwelt, Technik, bekannt als MUT, am Forschungszentrum Jülich. Er ist Mitglied der Arbeitsgruppe "Nicht-ionisierende Strahlung" sowie des Krisenstabes der Strahlenschutzkommission. Er leitet außerdem seit 2008 die AG Risiko Management des COST BM 0704 Programms. Zudem lehrt er an der Universität Innsbruck.

 

Dienstag, 27. Juni, 17:30 Uhr

Prof. Dr. York Sure-Vetter, KIT Karlsruhe

»Vom Web zum Social Web, oder: Wovon hat Obama mehr als Trump und was hat das mit frittierten Hühnchenstücken zu tun?«

Die Erfolgsgeschichte des World Wide Web ist einzigartig. Gestartet ist das Web mit der Idee von Sir Tim Berners- Lee (damals CERN) eines globalen geteilten Informationsraums. Wesentliche Weiterentwicklungen wie das Semantic Web haben aus dem Informationsraum einen allgegenwärtigen Wissensraum gemacht. Heute sorgen Soziale Netzwerke für die weltweite Verknüpfung von Menschen. Die Erzeugung und Verarbeitung von Daten wird immer zentraler nicht nur für Geschäftsmodelle, sondern auch für die Politik und das tägliche Leben. In der Präsentation wird er die Geschichte des Webs skizzieren, aktuelle und besondere Entwicklungen hervorheben und, nicht zuletzt, die Titel-Frage beantworten.

 

 

York Sure-Vetter ist Universitätsprofessor am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Angewandte Informatik und Formale Beschreibungsverfahren (AIFB). Seine Forschungsinteressen umfassen Web Science, Semantic Web, Linked Data, Data and Text Mining und Service Science.

Sure-Vetter erhielt 1999 sein Diplom als Wirtschafts-Ingenieur von der Universität Karlsruhe (TH). 2003 promovierte er zum Thema Ontologien und Wissensmanagement an der Universität Karlsruhe. 2007 bis 2009 war er als Senior Researcher bei SAP AG. 2009 bis 2015 war Sure-Vetter Präsident von GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften. Durch gemeinsame Berufungsverfahren nach dem Jülicher Modell hatte Sure-Vetter während dieser Zeit Professuren an der Universität Koblenz-Landau und der Universität Mannheim. In 2015 folgte Sure-Vetter einem Ruf auf eine Professur an das Institut AIFB des KIT und ist seitdem auch Direktor am Karlsruhe Service Research Institute (KSRI) des KIT sowie am FZI Forschungszentrum Informatik am KIT.

Sure-Vetter war Gastprofessor an der Universität Mannheim und der Stanford University. Er wurde mit verschiedenen Forschungs- und Lehrpreisen ausgezeichnet, darunter der IBM UIMA Innovation Award, der Wolfgang-Heilmann Preis der Integrata Stiftung und mehrfach der HECTOR Teaching Award.

 

Dienstag, 20. Juni, 17:30 Uhr

Prof. Dr. Matthias Herweg, KIT Karlsruhe

»Was geschieht, wenn man Geschichten erzählt? Geschichtsschreibung und historische Fakten aus mediävistischer Perspektive«

Die Geschichte ist, wir wissen das, ein Minenfeld. Politik, Wissenschaftstheorie, Philosophie, Literatur- und Sozialwissenschaften zerren an ihr und reiben sich an ihr, poststrukturalistische Theoretiker erklären sie zur Fiktion, die Poetik und Rhetorik seit der Antike zählt sie zur Dichtung, weil sie nach literarischen Regeln erzählt. Je näher zur Zeitgeschichte, desto brisanter wird die Frage nach ‚science and fiction‘ in der Geschichtsschreibung. Grund genug, einmal zurückzutreten und einfach mal vormoderne Quellen zu befragen, was sie von der Frage, theoretisch wie praktisch, halten. Die Antworten klingen zunächst überraschend, dann erstaunlich modern. Sie geben Anlass, auch unser Konzept von Geschichte und historischer Wissenschaft zu hinterfragen.

 

 

Mathias Herweg studierte Germanistik, Geschichte und Sozialkunde in Würzburg. Er promovierte dort mit einer Arbeit über die deutsche Geschichtsdichtung des frühen Mittelalters, seine Habitlation befasste sich mit Studien zum deutschen Roman um 1300. Im Jahr 2010 übernahm er die Professur für Mediävistik und Frühneuzeitforschung am KIT sowie die Leitung der Abteilung Mediävistik und Frühneuzeitforschung des Instituts für Germanistik, seit 2014 ist Herweg Co-Sprecher der Mediävistik in Baden-Württemberg. Aktuell arbeitet er unter anderem im DFG-Projekt „Enzyklopädisches Erzählen. Wissenspoetik im volkssprachigen Roman des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (14. bis 16. Jahrhundert)“; HeiKa-explore: „Textwelten und Wissensforschung“ gemeinsam mit Prof. Dirk Werle von der Uni Heidelberg.

 

Dienstag, 13. Juni, 17:30 Uhr

Volker Stollorz, Redaktionsleiter des Science Media Center Deutschland

»Expertisen, wenn Wissenschaft Schlagzeilen macht. 1 Jahr Science Media Center Germany«

Wenn Forschung Schlagzeilen macht oder wenn Großereignisse zeitnah nach Einordnung verlangen: Schnell und fundiert liefert das Science Media Center mit seinen inzwischen fünf Wissenschaftsjournalisten zuverlässige Fakten und abgesicherte Einschätzungen von anerkannten Fachleuten an registrierte Journalisten. Der Redaktionsleiter und Wissenschaftsjournalist Volker Stollorz gibt in seinem Vortrag einen Überblick über Ziele, Angebote und Erfahrungen des SMC Germany - nach einem Jahr mit über 70 Angeboten. Welche Themen wählt das SMC, über welche Themen berichten Journalisten kongruent aus? Vertrauen Wissenschaftler und Journalisten der Arbeit der Redakteure im SMC? Vorgestellt werden zudem einige im SMC Lab entwickelte intelligente Softwaresysteme, die Experten und Themen in der Flut der Veröffentlichungen sichtbar machen sollen.

 

 

Volker Stollorz ist Redaktionsleiter und Geschäftsführer des SMC. Er studierte Biologie- und Philosophie an der Universität Köln und am Niederländischen Krebsforschungsinstitut in Amsterdam. Außerdem ist er langjähriges Mitglied der Wissenschafts-Pressekonferenz (WPK).

 

Dienstag, 06. Juni, 17:30 Uhr

Dr. Elisabeth Hoffmann, TU Braunschweig

»Mars attacks – vom Umgang der Wissenschafts-PR mit antiwissenschaftlichen Diskursen«

Wie geht man vorausschauend mit antiwissenschaftlichen Diskursen um? Die Frage ist für PR-Verantwortliche nicht neu. Der Campus scheint Verschwörungstheoretiker, Weltformel-Erfinder und Anhänger „alternativer“ Erklärungsmodelle seit je her anzuziehen. Während diese sich früher in Ringvorlesungen, Briefen und Telefonaten die Aufmerksamkeit weniger verschafften, können sie heute in den sozialen Medien erhebliche Wirkung erzielen. Ein gutes Monitoring, Schnelligkeit und Fingerspitzengefühl sind wichtige Voraussetzungen, um professionell zu interagieren.

Aber auch damit versehen geraten PR-Verantwortliche ebenso wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei solchen Diskursen oft in die Defensive. Geübt in den wissenschaftlichen Tugenden, selbstkritisch, faktenorientiert, genau, treffen sie auf „Marsianer“. Diese Wesen beziehen sich auf für uns fremdartige Sinnzusammenhänge, ihr Verhalten scheint impulsiv und unberechenbar, und ihre Sprache ist kaum erforscht und daher kaum erlernbar. Viele der klassischen Kommunikationsmaßnahmen scheitern hier. Der Impuls lotet Möglichkeiten einer alternativen Wissenschaftskommunikation gegen alternative Fakten aus.

 

 

Dr. Elisabeth Hoffmann ist seit 1996 Leiterin der Stabsstelle Presse und Kommunikation der Technischen Universität Braunschweig. Sie studierte von 1984 bis 1990 Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Bonn. Zweimal ging sie für einen Studienaufenthalt in die USA (Mount Holyoke College, MA).

Nach dem Magister-Examen 1990 wurde sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Bonn. Hoffmann promovierte 1994 mit einer Dissertation über Thomas Pynchon. Ihr Volontariat absolvierte sie bei der Deutschen Universitäts-Zeitung (DUZ) des Raabe Fachverlags für Wissenschaftsinformation. 2008 bis 2014 war sie Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes Hochschulkommunikation. Hoffmann ist nebenamtlich Prokuristin der Haus der Wissenschaft Braunschweig GmbH und Mitglied der Arbeitsgruppe „Kommunikation zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Medien II“ der acatech, der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften und der Leopoldina.

 

Dienstag, 30. Mai, 17:30 Uhr

Christoph Koch, Leiter des Ressorts »Wissen« beim stern

»Evidenz, Faktizität und Geltung im Medizinjournalismus«

Die aktuelle Radikalisierung des politischen Diskurses hat der Frage nach dem Faktischen neue Wucht verliehen. Sprachlich Sensible haben diese Entwicklung gewürdigt: Zunächst wurde der Begriff post-truth in Großbritannien zum Wort des Jahres 2016 erwählt, wenig später seine grobe Entsprechung im Deutschen, postfaktisch. Der journalistische Gebrauch beider Begriffe ist unscharf – sie markieren indes ein Kontinuum von Beunruhigungen. Dieses reicht von der Selbstwahrnehmung eines sich prekarisierenden Berufes, dem die Ressourcen für tiefschürfende Recherchen ausgehen bis hin zum konkreten Aggressions- und Diffamierungserleben der Praktiker als Repräsentanten einer angeblichen „Lügenpresse“. Der scheinbar erhabene Wahrheitsbegriff der Gegenseite allerdings wird konsequent unscharf gehalten: Sie bekennt sich zu einem naiven Realismus und behauptet etwa, Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit etablierter Institutionen verrieten ihre Pflicht zur „objektiven“ Darstellung des Faktischen – wähnt sich dann aber, wo es nottut, im Besitz „alternativer Fakten“.

Obwohl aufgrund der Beladung mit dominanten Nachrichtenfaktoren in den letzten Monaten vor allem Diskurse der Identitätspolitik in den Vordergrund getreten sind („unser“ Europa abschotten, „unser“ Amerika groß machen), bildet Gesundheitspolitik eines der wichtigsten und instruktivsten Felder der gegenwärtigen Auseinandersetzung: Durch Großbritannien rollte der rote Kampagnenbus mit dem Slogan, man könne durch den „Brexit“ 350 Millionen Pfund gewinnen, um sie in öffentlich finanzierte Krankenhäuser zu investieren; in den USA wurde die Wahl mit einer diametral entgegengesetzten Forderung gewonnen: der nach dem Abbau einer sozialen Krankenversicherung. In beiden Fällen stimmten demographisch sehr ähnliche Zielgruppen für vollkommen widersinnige Politikziele – und vermuteten hinter dem jeweiligen Politikangebot gleichermaßen tiefere Wahrheit.

Gesundheitspolitik als wesentliche Säule der Sozialpolitik und damit staatlicher Legitimation bietet die Gelegenheit, den Usus des Wahrheitsbegriffs und den Gebrauch des Tatsächlichen in der Kommunikation zu untersuchen. Denn als Vorreiterfeld hat sich in der Medizin der Begriff der Evidenzbasierung entwickelt, der gezielt nicht nach tiefgründigen Wahrheitskonstruktionen fragt, sondern sich auf die Frage nach dem Grad der epistemologischen Absicherung konkreter medizinischer Interventionen und Politiken beschränkt. Vor 20 Jahren begann die Berichterstattung über diesen neuen Evidenzbegriff, einem unscharfen Neologismus zwar, aber einem umso klareren Konzept auch für Recherche und Argumentation. Meine Forschungen widmen sich den Fragen nach Rezeption der Evidenzwende im Journalismus, aber auch nach der Übertragbarkeit des Konzeptes evidenzbasierten Argumentierens in der journalistischen Rhetorik selbst. Es wird der Versuch unternommen zu zeigen, dass es tatsächlich richtige und falsche, gute und schlechte Entscheidungen sowohl im Feld der angewandten Wissenschaft Medizin als auch im policy making gibt – und dass sich dies ohne (womöglich exkludierende) Rückgriffe auf hochalpine Metaphysiken argumentieren und kommunizieren lässt.

 

 

Christoph Koch ist Humanbiologe und Sozialwissenschaftler und leitet das Ressort „Wissen” beim stern. Er promoviert zum Thema „Mediale Rezeption und Präsentation der Evidenzbasierten Medizin” an der TU Dortmund und hat zuletzt mehrere Bücher zur Gesundheitsökonomie und Beiträge zur Patientenzentrierten Forschung und zur Journalistik publiziert.

 

Dienstag, 23. Mai, 17:30 Uhr

Prof. Dr Stefan Scherer, KIT Karlsruhe

»Ursprung populärer Wissenschaftskommunikation. Rhetorik und Geltung einer neuen Wissenschaftspublizistik in Deutschland nach der Reichsgründung«

Der Vortrag wirft einen historischen Blick auf die Anfänge der externen Wissenschaftskommunikation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Um 1850 ist die Institutionalisierung der Natur- und Technikwissenschaften an der neuen Universität (seit 1810) abgeschlossen. Den Bedarf nach Orientierung über den Erkenntnisfortschritt auch in diesen Disziplinen für ein nichtfachliches Publikum bedienen neuartige Kulturzeitschriften im Unterschied zu den Fachzeitschriften. Ihre Spezialfunktion besteht darin, einen ‚Überblick’ über das gesamte Kulturleben der Zeit zu ermöglichen.

Zugleich entsteht um 1850, was wir heute Populärkultur nennen – ebenfalls mit diesen Kulturzeitschriften. Die Deutsche Rundschau (seit 1874) widmet sich dabei erstmals der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse in allen Disziplinen. Im Rundschau-Modell geschieht dies durch neue Textsorten und Schreibweisen: Mit dem "wissenschaftlichen Essay" betreiben die angesehensten Professoren der Zeit Wissenschaftskommunikation zwischen Faktizität und rhetorisch behaupteter Geltung. Bereits hier geht es also um die Spannung zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und Weltanschauung: so etwa bei Ernst Haeckel, der mit künstlerisch gestalteten Bild-Tafeln über Gegenstände der Natur (Korallen, Kristalle) das monistische Gesetz der Welt anschaulich machen will. Deutlich wird daran, wie man mit der vermeintlichen Evidenz von Bildern auch in der Wissenschaft "lügen" kann – ganz in dem Sinn, wie es Nietzsche in seinem Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn von 1873 ausgeführt hatte. Implikationen des Postfaktischen sind daher von Beginn an in der populären Wissenschaftskommunikation bemerkbar, zumal es bereits hier um die Konstruktion von Ideologien durch Wissenschaft geht.

 

 

Prof. Dr. Stefan Scherer ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik des KIT und ist Geschäftsführer des Instituts. Vor seinen Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Professor am KIT promovierte er in Neuerer deutscher Philologie an der Universität Würzburg. Er war über mehrere Jahre lang Fellow an der Universität Göttingen im Rahmen der DFG-Forschergruppe "Ästhetik und Praxis populärer Serialität" sowie 2015 und 2016 Gastdozent am Beijing Institute of Technology (BIT) in China. Zudem forscht Scherer im Feld "Publizität und Popularisierung von Technikdiskursen. Populäre Technikfolgendiagnosen in seriellen Medien" am KIT-Zentrum "Mensch und Technik".


Dienstag, 16. Mai, 17:30 Uhr

Liwen Qin, European Director of jiemian.com

»Chinese Social Media: Post Truth or Pre-truth?«

The social media in China prospers in a very special environment: in one of the 10 countries that have blocked Facebook, Twitter and youtube, and one of 25 countries that have blocked google. China has world's most powerful firewall -- the Great Firewall, which, in the past two decades, has turned Chinese internet into an intranet with its own common language and rules. Government, corporates, old and new economics, civil soceity, individuals all play their roles in shaping the narrations, but government and corporates are the most resourceful and powerful in this game. In a way, post-truth phenomenon on social media has started to be rehearsed in China at least 8-9 years earlier, and the actors are getting better over time. Many lessons can be drawn from this uneasy experiement.

 

 

 

Liwen Qin is European Director of jiemian.com, a newly founded news website in China, focusing on covering business and finance fields. She is also CEO and Founder of Trends Eurasia, a consultancy firm that helps tech startups and investors in Germany and China to prepare for market entry into each other’s country.


Dienstag, 02. Mai, 17:30 Uhr

Prof. Dr. Markus Knauff, Fachbereich Psychologie und Sportwissenschaft, Universität Gießen

»Vernunft oder Bauchgefühl - Neue Ergebnisse der Rationalitätsforschung«

Sind wir rational? Oder sind wir doch alle „Idioten”, die sich durch Gefühle, vorgefasste Meinungen und Bauchentscheidungen leiten lassen? Warum denken und handeln wir oft irrational im Umgang mit Medien, Facebook, Google, Twitter, & Co? Markus Knauff vertritt in seinem Vortrag drei Thesen: (1) Bevor wir uns fragen, ob Menschen rational sind, müssen wir entscheiden, was als rational gelten soll; (2) Menschen sind oft durchaus in der Lage, zwischen rational und irrational zu unterscheiden; (3) Menschen sind viel rationaler, als wir selbst annehmen. Im Vortrag werden experimentelle Ergebnisse aus der Kognitionspsychologie und kognitiven Neurowissenschaft berichtet, die diese Thesen stützen. Knauff stellt dar, was diese Befunde für unseren Umgang mit Medien bedeuten und wie wir versuchen sollten, Denkfehler zu vermeiden, schlechte Argumente zu entlarven und uns gegen Manipulation zu wehren.

 

 

Markus Knauff, Prof. Dr. Phil. und Dipl. Psych, leitet die Abteilung für Allgemeine Psychologie und Kognitionsforschung an der Universität Gießen. Er habilitierte an der Universität Freiburg, vor seiner Tätigkeit in Gießen war er unter anderem außerplanmäßiger Professor für Kognitionswissenschaft an der Universität Freiburg sowie Heisenberg-Stipendiat der DFG und Arbeitsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik in Tübingen. Er ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs), der Fachgruppe Allgemeine Psychologie der DGPs, der Gesellschaft für Kognitionswissenschaft (GK), der Cognitive Science Society (CSS) und der Gesellschaft für Informatik (GI), Fachgruppe Kognition. Außerdem ist Knauff Sprecher des DFG-Schwerpunktprogramms "New Frameworks of Rationality".

Forschungsinteressen: höhere kognitive Prozesse; Denken, Entscheiden, Rationalität; soziale Kognition und kollektive Rationalität; Raumkognition, Navigation und Wegefinden; anschauliches Denken und Vorstellen; Künstliche Intelligenz und kognitive technische Systeme